
Muss der Winterspeck wirklich weg?
Nur noch kurze Zeit, dann darf ich endlich wieder Motorradfahren. Nach zwei Messebesuchen und dem Liebäugeln mit den auf Hochglanz polierten Maschinen, sehe ich mich schon auf geschwungenen Straßen durch Kurven, über Pässe und durch wunderschöne Landschaften flitzen. Ich schließe die Augen, atme tief ein und kann den Frühling schon riechen.
Jetzt gibt es kein Halten mehr. Ich renne in den Keller und reiße die Motorradklamotten aus dem Schrank. Das Material ist fest und gleichzeitig weich. Die Spuren der letzten Saison hat die Waschmaschine vorbildlich entfernt. Ich drücke die Protektoren. Automatisch strafft sich mein Rücken – ich muss die Sachen anziehen.
Zurück in der Wohnung kann die Metamorphose beginnen. Eben war ich noch träge, jetzt bin ich voller Energie. Die müde Arbeitsbiene verwandelt sich in die coole Bikerin. Und dann passiert es! Die wundersame Klamottenschrumpfung, die ich schon bei meinen Jeans festgestellt habe, hat auch die Motorradausrüstung befallen. Ich hole tief Luft. Es gelingt mir den kleinen Haken am Bund zu verankern. Ausatmen kann ich jetzt allerdings nicht mehr. Ratsch – der Reißverschluss ist zu. Die eben noch herrlichen Straßen verzerren sich zu einem bizarren Zick-Zack-Kurs. Ich sehe mich ohnmächtig vom Motorrad kippen, das Gesicht blau angelaufen. Der Schock sitzt tief und ich muss mich erst einmal hinsetzen – und die Hose wieder öffnen.
Kurz flammen Selbstvorwürfe über meine Maßlosigkeit beim Essen und Vorhaltung über mein klägliches sportliches Engagement auf. Frustration macht sich breit und ich unterdrücke den Impuls nach Schokolade. Ich halte inne und horche in mich hinein. Darf ich so hart zu mir sein? Eine kleine, zarte Stimme meldet sich: „ Ich hab dich trotzdem lieb“, sagt sie und ich merke, wie das BMI-Gespenst seine Klauen lockert. Ich will mein Leben genießen und mir nicht durch Körpermaße und Diätwahn die Vorfreude auf das Motorradfahren verderben. Ich überlege. Alltagsbekleidung habe ich in verschiedenen Größen. Nur bei den Motorradsachen erwarte ich, dass sie mir jahrelang passen. Damit ist jetzt Schluss. Ich beschließe mir eine neue, passende Hose zu kaufen. Selbstbewusst und mit Lebensfreude will ich die Saison beginnen.


