
Flammenwerfer: Literatur fährt Motorrad
Wann befasst sich zeitgenössische Literatur schon einmal mit Motorradfahren? Wann hat so ein Roman eine Frau verfasst? Wann wurde so ein Buch von der Kritik als begeisterndste, hochoktanigste Leseerfahrung gefeiert? Nie. Doch jetzt ist 'Flammenwerfer' der US-amerikanischen Autorin Rachel Kushner auf den deutschen Markt gekommen.
Von Karin Schickinger
Wie Autorinnen sich ihre Inspiration suchen, ist individuell sehr verschieden. Die einen recherchieren wie wild, sprechen mit Zeugen oder fahren mit einem Fischkutter über den Atlantik. Rachel Kushner pinnte Bilder an die Wand. Zuerst eine Frau mit Klebeband über dem Mund. Als zweites Foto hängte sie eines von Fabio Taglioni auf. Fabio Taglioni war Ducati-Konstrukteur, heute eine Legende, denn er entwickelte die charakteristische desmotromische Ventilsteuerung und den zweizylindrigen Vau-Motor mit einem in Fahrtrichtung liegenden und einem stehenden Zylinder.
Anschließend suchte Rachel Kushner ein Bild einer motorradfahrenden Frau aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, denn in dieser Zeit wollte sie ihren Roman ansiedeln. Sie fand aber keines. Stattdessen schaute sie sich den Film 'The Girl on a Motorcycle' an, der in vielen Ländern 1968 auch unter dem Titel 'Nackt unter Leder' (Naked under Leather) in die Kinos kam. Marianne Faithful spielte übrigens die Motorradfahrerin und Alain Delon ihren Lover Daniel (hier der Link zum Film auf YouTube).
Die schnellste Frau der Welt
„In der schwierigsten Fahrszene wird Marianne Faithful von einem bulligen Mann mit honigblonder Perücke gedoubelt, was man sieht, wenn man die Stelle langsam abspielt“, beschreibt Kushner im Nachwort. Dass Frauen für solche Szenen gedoubelt worden sind, kann sich die Autorin kaum vorstellen, ist sie laut Klappentext selbst Liebhaberin schneller Motorräder. So beginnt der Roman 'Flammenwerfer' – nach einer kurzen Szene aus dem ersten Weltkrieg – folgerichtig damit, wie die junge Ich-Erzählerin Reno mit ihrem Motorrad in den Staaten gen Osten fegt. Später wird sie auf dem berühmten Bonneville-Salzsee einen Geschwindigkeitsrekord für Frauen aufstellen, beinahe so nebenbei wird sie zur schnellsten Frau der Welt. „Geschwindigkeit war ein Fahrdamm zwischen Leben und Tod, und man konnte nur hoffen, auf der Seite des Lebens herauszukommen“, sinniert die Hauptfigur nach einem Faststurz.
Doch Reno ist nicht nur passionierte Bikerin, sie geht ins New York der 70er Jahre, um 'Teil von etwas' zu werden'. Sie jobbt als „China Girl“, für den Bruchteil einer Sekunde sichtbare Models auf dem Vorspannband eines jeden Films, deren Hautton als Referenz für Farbabstimmungen der Filmvorführer diente. Als erste Person trifft sie die Kellnerin Giddle, die ihr Leben als Kunstwerk ohne Publikum begreift und ihren Job als Performance begann, doch dann irgendwie nicht mehr rauskam aus der Sache. Mit ihr zieht Reno durch Manhattan, verliebt sich dabei in den wesentlich älteren Konzeptkünstler Sandro Valera, der wiederum Spross einer reichen Reifen- und Motorraddynastie aus Italien ist.
Flucht
In einem zweiten Strang, eingewebt in Renos Story, erzählt die Autorin die Geschichte dieser Industriellendynastie Valera als eine Mischung aus Faszination an Fortbewegung, Freiheit und Technik, doch zugleich aufgebaut auf der Ausbeutung von brasilianischen Arbeitern auf den Kautschukplantagen. Als Reno für eine Werbekampagne als Rekordfahrerin mit Sandro nach Italien reist, stören gerade Streiks in den Valera-Werken das herrschaftliche Leben der Valera-Villa am Comersee. Im dekadenten Zuhause verliert sich Reno immer mehr. Von Sandro, der eigentlich als schwarzes Schaf der Familie gilt, lässt sie sich in ein teures Kostüm stecken, damit sie den Ansprüchen seiner Familie genügt. Damit gibt er sie den Spötteleien seiner Mutter preis, um sie anschließend mit seiner Cousine zu betrügen. Reno flieht ins aufständische Rom mit Straßenschlachten, autonomen Wohngemeinschaften und Politmacker.
Es passiert sehr selten, dass Rezensenten der großen Zeitungen einen Roman, in dem Motorräder, Motorradfahren, Motorradfahrerin ein zentrale Rolle spielen, über alles loben. „Wild, intellektuell, europäisch und amerikanisch“, „Sehnsucht nach avantgardistischem Welttheater“, „grandiose Coolness“, „feurige Charakteren, plastisch bis zur Schmerzhaftigkeit“ aber auch „Macho-Roman“ oder „Erzählung im Stil des Pirelli-Kalenders“ sind Zitate aus Zeitungskritiken.
Macho-Welt
Es ist eine Macho-Welt, in der Reno sich bewegt. Die Männer leben ihre Promiskuität aus, schieben die Frauen aus ihren Leben ein und aus, wie es ihnen gerade gefällt. Rachel Kushner füllt diese Welt – egal ob in New York oder Rom – mit Bildern, Dialogen und Gedanken. Ihre Protagonistin Reno lässt sie dabei manchmal ganz schön allein. So geradlinig diese ihre Motorräder pilotiert, so wenig zielorientiert bewegt sie sich durchs Leben.
Am Ende steht Reno in Chamonix und wartet auf einen Mann. „Man kann nachdenken und nachdenken, über den Sinn des Wartens, über die Frage, ob es irgendeinen Sinn hat, ob irgendjemand auftauchen wird, aber wenn dieser Jemand nicht auftaucht, gibt nichts und niemand eine Antwort.“
Bis sie beschließt, sich loszureißen.
Flammenwerfer, Rachel Kushner, Rowohlt 2015, 560 Seiten, 22,95 Euro ISBN 978-3498034191



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