
Wie Königinnen: Genussvoll durch den Südtiroler Vinschgau
Vier Frauen zwischen Spitzkehren und Kasnockn
„Das Stilfser Joch ist ja ganz in der Nähe", schießt es Claudia auf dem Weg nach Südtirol durch den Kopf. Dieser beeindruckende Gebirgspass ist mit 2.757 Höhenmetern die höchstgelegene, asphaltierte Passstraße Italiens. Mit ihren insgesamt 84 Kehren und einem traumhaften Panorama, zieht sie Zweiradfahrer magisch an. Der Passo dello Stelvio, wie er auf Italienisch heißt, ist für Kradisten eine Herausforderung. Nicht umsonst gilt sie als die Königin der Passstraßen. Doch Claudia ist nicht auf der Suche nach Herausforderungen. Motorradfahren verbindet die Frankfurterin vor allem mit genussvollem Erleben. Und so soll auch ihr erster, großer Motorradurlaub werden.
Seit drei Jahren fährt die Mittvierzigerin Motorrad. Die Liebe zu heißen Öfen ist allerdings schon viel älter. In den 90er Jahren tuckerte sie mit allerlei Krädern umher. Alles, was mit dem Autoführerschein gefahren werden durfte, war recht. Eine Vespa GTL 300 gehört auch heute zu ihrem Fuhrpark. Doch für größere Touren schwingt sie sich lieber auf ihre Kawasaki W 800, gemeinsam mit ihren bikenden Freundinnen Anja und Barbara.
Im Sommer 2015 wollte Claudia in die Alpen. Ein genaues Ziel gab es noch nicht. Sicher war nur, dass die Tour eine Mischung aus Motorradfahren, Erleben und Entspannen sein sollte – und das ginge am besten in einer reinen Frauengruppe. „Wenn ich mit Männern fahre, habe ich immer das Gefühl sie wollen möglichst schnell von A nach B kommen, während ich mir auch gerne mal etwas anschaue und die Landschaft genieße, durch die ich fahre", beschreibt die unternehmungslustige Hessin ihre Erfahrungen. Beim Stöbern im Internet findet sie ein Angebot von Ulla Tours. „Biken in den Bergen, Shoppen in Meran, Wellness im Hotel" – diese Beschreibung passt perfekt. Ein Motorradurlaub ganz nach dem Geschmack der drei Freundinnen, denn er lässt auch Zeit für andere Aktivitäten.
Urlaub ohne Hektik
Das Ziel hieß nun Italien, Südtirol, genauer gesagt der Vinschgau. Eine der Lieblingsdestinationen von Ursula Arenz. Seit über 30 Jahren ist die gebürtige Kölnerin als Tourguide auf zwei Rädern unterwegs. Zunächst im Auftrag von Motorradhändlern, die ihren Kunden etwas Gutes tun wollen, und seit 2011 als Reiseveranstalterin von Ulla Tours. Frauentouren sind von Anfang an in ihrem Repertoire. „Ich genieße die Abwechslung in meinen Gruppen, denn jede ist anders. Bei Männergruppen habe ich bisher die Erfahrung gemacht, dass die Jungs vor allem viel fahren wollen. Tagesetappen von mindestens 300 Kilometer in sehr zügiger Fahrweise sind normal. Mit Frauen ist es wesentlich entspannter. Da kann man sich auch mal auf eine Wiese setzen und einfach die Sonne genießen", erzählt Ulla. Unser Alltag werde genug von Hektik und Zeitdruck bestimmt. Daher plane sie ihre Touren immer so, dass genug Spielraum in alle Richtungen sei. „Ich kann jederzeit eine Schleife dranhängen oder hier und da abkürzen. So passe ich die Touren an die Gruppe an und nicht umgekehrt."
Nach zwei Anreisetagen mit über 300 Kilometern von Frankfurt nach Ellwangen, dem ersten Zwischenziel, und weiteren 400 Kilometern ins Vinschgau, stehen am dritten Tag folgerichtig Ankommen und Ausruhen auf dem Programm. Die Anfahrt steckt allen in den Knochen und so genießen die vier Frauen den Tag am Erlebnisberg Watles. Eine kleine Wanderung macht die Beine wieder locker, der Bogenschießen-Schnupperkurs schärft die Konzentration und die Talfahrt mit dem Watlesrider weckt das Kind in der Bikerin. Am Nachmittag geht es in die Sauna und in den Whirlpool, mit abschließendem Hogo auf der Sonnenterrasse. So muss Urlaub sein!
Über fünf Pässe durch drei Länder
Nach einem weiteren Tour- und einem motorradfreien Tag, den die Frauen mit einem Fahrradausflug nach Meran füllten, sind am fünften Tag alle wieder heiß auf die Bikes. Da kommt die äußerst attraktive "3-Länder-Tour", mit knapp 270 Kilometer Länge und fünf bekannten Passstraßen, gerade recht. Sie ist ein fester Bestandteil des Vinschgau-Urlaubs mit Ulla.
Hochmotoviert startet die Gruppe zunächst in südliche Richtung, überquert die Grenze zur Schweiz und befindet sich auf der B 28 Richtung Ofenpass, dem historisch bedeutsamen Verkehrsknotenpunkt zwischen Unter- und Oberengadin. Die serpentinenreiche, gut ausgebaute Straße führt direkt durch den Schweizer Nationalpark. Dieser wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts als Schutzgebiet ausgewiesen und ist der allererste Nationalpark in ganz Mitteleuropa überhaupt. Auf der Passhöhe des "Pass dal Fuorn" befindet sich ein Restaurant mit Bikertreff. Der obligatorische Fotostopp darf hier nicht fehlen. Eine Kaffepause legt das Quartett am Passende im Bergdorf Zernez ein.
Weiter geht es südwestlich zum schmalen, für gemütliche Fahrt ausgelegten Albula Pass. Je höher man kommt, desto schmäler und schlechter wird auch die Straße. Die Frankfurter Truppe schraubt sich langsam nach oben. Ebenfalls langsam aber genauso zielstrebig schiebt sich eine Nebelfront über den Pass und versperrt die sonst wunderschöne Aussicht über die kleine Hochebene und den Bergsee. Von der Sonne ist auf 2.315 Metern Höhe kein wärmender Strahl mehr zu spüren. Zum Glück ist der Pass wenig befahren, denn Dank der Eisenbahn nutzen hauptsächlich Touristen und Radfahrer diese Strecke. Die Geschwindigkeit wird den Sichtverhältnissen angepasst und so geht es im Schneckentempo wieder bergab.
Als die Gruppe kurz vor Davos anhält, sind die Fahrerinnen schon über drei Stunden unterwegs. Zeit für die Mittagspause. Auf der Sonnenterrasse des Riner Lodge Campingplatzes machen es sich die Amazonen gemütlich. Bei Apfelschorle und Tee, Schweizer Käsespätzle, Wurstsalat und Pommes Frites wird über die gemeinsamen Erlebnisse gesprochen. Claudia, die sonst oft als "Leithkuh" vorausfährt, genießt es, die Verantwortung abzugeben. „Wir profitieren natürlich von Ullas Strecken- und Ortskenntnis. Da kann ich auch mal ganz entspannt hinterherfahren", sagt sie verschmitzt.
Die Serpentinen haben es in sich
Über Davos Dorf führt eine gut ausgebaute, langsam ansteigende Straße durch einen kleinen Nadelwald immer weiter nach oben durch das Flüelatal. Der Wald wird lichter bis er schließlich den Blick hinauf zum Gipfel des Flüela Wisshorn frei gibt. Kurven- und Serpentinen haben es teilweise in sich, denn einige ziehen sich zu und sind daher schlecht einsehbar. Vorausschauendes Fahren ist hier angebracht. Das merkt auch die Bikerinnen-Truppe.
Mit 2.383 Metern ist der Flüela Pass der höchste der fünf, die heute auf dem Programm stehen. Ulla führt "ihre Mädels" sicher nach oben. Dort angekommen erwartet die Gruppe ein buntes Gemisch aus motorisierten und nicht motorisierten Zweirädern, Wohnmobilien, Autos und Fußgängern, die zwischen Hospiz, Souvenirladen und See auf der Suche nach den besten Fotospots hin und her springen.
Die Abfahrt endet in Susch und stößt dort auf die B27, wo die Gruppe nach links Richtung Nauders abbiegt. Von der B27 geht es im Ort Martina rechter Hand auf die Martinsbrucker Straße und damit über die Grenze nach Österreich. Die Strecke über die 1.461 Meter hohe Norbertshöhe bietet noch einmal schöne Serpentinen bevor es dann Richtung Süden zum Reschenpass und damit wieder zurück nach Italien geht.
Einmal mehr zahlt sich Ullas Erfahrung als Tourguide aus, denn in den Sommermonaten ist diese Strecke sehr stark frequentiert. Außerdem ist das einzig aufregende am Reschenpass die Geschichte des Bergdorf Graun (Gruon). Dieses wurde 1948 geflutet , um den Reschensee aufzustauen. Wie ein Stummer Zeuge des Widerstandes ragt heute noch der Kirchturm aus dem See und gibt dem ganzen Ort ein bizarres und nachdenklich stimmendes Antlitz.
Die Tourguidin wählt nicht die viel befahrene touristische Uferseite sondern führt die Gruppe auf der Westsete auf schmalen Wegen am Reschensee vorbei. Auf dieser sehr kleinen, idyllische Straße entkommt man nicht nur dem Verkehr, der die Fahrt auf der anderen Seite zur Tortur werden lässt, sondern man schaut mit einen ganz neuen Blick auf den trotzigen Kirchturm im See.
Die Belohnung danach
Das "Ankommenbier" schmeckt auch heute lecker und löscht – selbstverständlich auf der großzügigen Terrasse des Hotel Kastellatz eingenommen – die durstigen Kehlen. Das familiengeführte Hotel mit dem einzigartigen Panorama, liegt hoch über dem Obervinschgau am Fuß des Watles auf über 1.700 Meter. Ortlergruppe, Vinschgauer Sonnenberg, die Dörfer Burgeis, Mals, Schluderns, Prad und das kleinste Städtchen Europas Glurns, verschwinden langsam in der Dämmerung. Dieser Tag war anstrengend, aber auch wunderschön.
Nach fünf Tagen mit allerlei Köstlichkeiten, einer Mischung aus traditioneller Tiroler und raffinierter italienischer Küche, zwickt der Hosenbund schon ein wenig. Aber das Essen ist einfach zu lecker, nicht zuzuschlagen wäre eine Sünde. Hier kocht Hausherr Hubert selbst. Viele der Rezepte von Hubert und Sohn Michael findet man zum nachkochen auf der Homepage des Hotels.
Das Stilfser Joch ist die Königin der Passstraßen
„Wir sind von Tag zu Tag geschmeidiger auf den Motorrädern. Darum wünschen wir uns für den letzten Tag unsere persönliche Königsetappe: Die Fahrt aufs Stilfser Joch!", erklärt Claudia mutig. Kein Problem für Tourguide Ulla. Um nicht die komplette und sehr anspruchsvolle Strecke ab Bormio mit ihren vielen engen Tunnels fahren zu müssen, führt sie die Gruppe zunächst nach Süden durchs Val Müstair.
Für den kulturellen Höhepunkt des Münstertals, ein Benediktinerkloster mit einer aus dem Jahr 775 stammenden Klosterkirche, hat heute niemand ein Auge übrig. In Santa Maria biegen die Motorradfahrerinnen nach links ab und folgen der Umbrail-Passstraße, dem Schweizer Zubringer zum Stilfser Joch, die übrigens seit Sommer 2915 komplett asphaltiert ist. Die schmale Strecke steigt schnell und mit vielen Serpentinen an. Sie führt zunächst über saftige Almwiesen und bietet einen tollen Blick ins Tal.
Nach der Schweizer Zollstation auf 2.501 Meter wird es ernst: Blinker links und die Frauengruppe fährt auf die "Strada dello Passo del Stelvio". Es ist viel los auf der Strecke und so schrauben sich die Jochbezwingerinnen mit Radfahrern, Wohnmobilen und unzähligen anderen Motorrädern nach oben. Die letzten Tage waren für die Fahrerinnen ein gutes Training und so kommen alle heil auf der Passhöhe an.
Dort steppt der Bär, doch das ist Claudia, Anja und Barbara egal. Sie sind die wahren Königinnen der Passstraße und merken, wie gut sich Herausforderung und Genuss ergänzen. Claudia zählt 44 Kehren bis nach unten und ist überglücklich: „Noch zu Beginn der Reise haben Spitzkehren mich nicht unbedingt euphorisiert aber nach dieser Abfahrt hat es ganz schön gedauert, das Grinsen wieder in den Griff zu bekommen."
Fazit der Tour: deutlich entspannter
Nach insgesamt neun Tagen und 1.950 gefahrenen Kilometern ist Claudias Fazit eindeutig: „Jederzeit würde ich wieder eine reine Frauentour mit Ullatours buchen. Es ist einfach ein Unterschied wenn keine Männer dabei sind, die Tage sind deutlich entspannter. Allen motorradfahrenden Frauen kann ich diese Tour wärmstens ans Herz legen. TRAUT EUCH! Auch wenn ihr bisher noch keine Tour gemacht habt, hier wird das Gruppenniveau so gelegt, dass jede gut mitkommt und Spaß hat. Auch für allein reisende Mädels ist diese Art der Gruppenreise meiner Meinung nach perfekt, da man eben Gleichgesinnte trifft und herrliche Tage miteinander verbringt." Für 2016 hat sie wieder bei Ulla gebucht. Dieses Mal heißt das Ziel Gardasee.
Text: Frauke Tietz
Bilder: privat
Kartenmaterial:
https://www.123map.de
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Die Reportage erschien ebenfalls in Alpentourer Nr. 41, Ausgabe 3/2016


