
Motorradfahren bei Dunkelheit: Nachts sind alle Straßen grau
Ich hätte eher losfahren sollen. Geplant war, die Stadt am frühen Nachmittag hinter mir zu lassen. Doch nun ist es Abend geworden, als ich endlich die Bürotür hinter mir schließe. Im November sind die Tage kurz. Ich beeile mich, das Gepäck auf das Motorrad zu schnallen. Die Familie wartet 160 Kilometer entfernt auf meinen längst überfälligen Besuch. Nur langsam komme ich durch den Feierabendverkehr voran.
Es wird stockfinster
Als ich endlich die Stadtgrenze passiere, dämmert es schon. Auf der Landstraße sind nur wenige Autos unterwegs, an denen ich bald vorbei bin. Die Kühe auf der Weide sind dunkle Schemen im schwindenden Licht. Die Sträucher verschwimmen vor dem Hintergrund des dunkelgrauen Abendhimmels. Als ich in den Wald einfahre, wird es stockfinster. Am Straßenrand neben mir bewegt sich etwas. War das ein Reh? Oder doch nur ein Ast, der im Wind schaukelt? Die Bäume stehen dicht, eine schwarze Wand neben der Fahrbahn. Ich drossele die Geschwindigkeit, schalte das Fernlicht ein. Der helle Lichtkegel wirkt merkwürdig klein. Rings um mich herum nur Dunkelheit. Normalerweise vermeide ich es, nach Sonnenuntergang mit dem Motorrad unterwegs zu sein. Doch heute werde ich noch mehr als eine Stunde über nachtschwarze Landstraßen fahren müssen. Beim Gedanken daran wird mir mulmig zumute.
Die Angst vor der Dunkelheit ist den Menschen angeboren.
Im Zuge der Evolution war sie eine lebenswichtige Notwendigkeit. Unsere Vorfahren mussten darauf vorbereitet sein, in der Finsternis von wilden Tieren angefallen zu werden. Sie lernten, das Dunkel zu meiden und fanden Mittel und Wege, es zu vertreiben: zunächst mit Feuer, dann mit Hilfe des elektrischen Stroms. Durch der Erfindung der Glühbirne hat der Mensch die Nacht zum Tage gemacht. Und dennoch gruselt es nicht nur kleine Kinder vor der Dunkelheit, vor finsteren Kellern oder düsteren Ecken. Auch Erwachsene sperren die Nacht mit Vorhängen aus, installieren Außenbeleuchtungen und greifen zur Taschenlampe, wenn sie im nächtlichen Schatten ein ungewohntes Geräusch hören.
Denn ist es nicht die Dunkelheit an sich, vor der die Menschen sich fürchten, sondern das, was sich in ihr verbirgt. Oder besser gesagt: verbergen könnte. Wenn das Licht schwindet, schwindet auch die Fähigkeit, die Umgebung deutlich wahrnehmen zu können. Das menschliche Auge ist zwar ein Meister darin, sich an die unterschiedlichsten Lichtverhältnisse anzupassen. Allerdings benötigt es Zeit, sich an nächtliche Schwärze zu gewöhnen. 20 bis 25 Minuten kann die sogenannte Dunkeladaption dauern. Der Blick in die Finsternis geht auf Kosten der Sehschärfe. Das liegt daran, dass die als Stäbchen bezeichneten Zellen im Auge, die in der Dunkelheit für Durchblick sorgen, im zentralen Bereich der Netzhaut fehlen. Im Dunkeln schaut man praktisch aus den Augenwinkeln heraus. Ein „Scharfstellen“ des Auges ist dort nur eingeschränkt möglich, die Sicht wird körnig und verschwommen. Zudem können die Stäbchen nur Graustufen erkennen. So kommt es, dass nachts nicht nur die sprichwörtlichen Katzen grau sind, sondern auch Häuser, Bäume und Straßen. Die für das Farbsehen zuständigen Sehzellen, die Zapfen, machen im Dunkeln Pause und treten erst dann wieder ihren Dienst an, wenn irgendjemand das Licht einschaltet.
Die Fähigkeit zur Dunkeladaption kann zudem im Lauf des Lebens abnehmen. Bei manchen Menschen führen erbliche Faktoren, Vitamin-A-Mangel, Augenerkrankungen oder Diabetes zu einer Verringerung der Sehfähigkeit im Dunkeln und im schlimmsten Fall gleich ganz zu Dämmerungs- und Nachtblindheit. Auch Fehlsichtigkeit von wenigen Dioptrien beeinflusst die Nachtsicht. Für mich als Brillenträgerin ist das keine gute Nachricht.
Wo visuelle Reize nicht mehr klar zuordenbar sind, füllt das Gehirn die Lücken mit Fantasie
Meine scheint auf der Fahrt durch die Nacht besonders lebhaft so sein. Sie macht aus einem Busch ein Wildschwein, das nur darauf wartet, sich vor mein Vorderrad zu stürzen. Die vom Mond beschienenen Wolkenschatten, die über die Straße treiben, könnten auch ein Rudel Wölfe sein, die hier seit kurzem wieder heimisch sind. Und kann ich mir wirklich sicher sein, dass aus dem am Waldesrand parkenden Auto nicht gleich ein Psychopath heraus springen wird?
In Gedanken schlage ich mir selber mit der Hand vor den Kopf und rufe mich innerlich zur Ordnung. Denn abgesehen von Wildunfällen, die tatsächlich am häufigsten in den Dämmerungsstunden und nachts auftreten, sind die realen Gefahren einer Dunkelfahrt vor allem die menschlichen Verkehrsteilnehmer. Und zwar keineswegs nur die anderen.
Das Unfallrisiko ist nachts mehr als doppelt so hoch wie tagsüber
Laut der Deutschen Verkehrswacht wird nachts häufig besonders schnell gefahren. Dies liegt zum einen daran, dass das Verkehrsaufkommen deutlich geringer ist. Zum anderen unterschätzen Auto- und Motorradfahrer häufig ihre Geschwindigkeit. Der dunkle Straßenrand bietet kaum Orientierungspunkte, an denen sich das eigene Tempo ausrichten lässt. Falsch eingestellte Scheinwerfer, die die Straße nicht ausreichend ausleuchten oder entgegenkommende Fahrer blenden, gehören zu den bei Inspektionen am häufigsten festgestellten Mängeln. Radfahrer oder Fußgänger, die ohne Beleuchtung oder Reflektoren unterwegs sind, werden zu spät oder gar nicht erkannt. Alkoholisierte Fahrten finden abends und nachts häufiger statt als am helllichten Tage. Und auch nüchterne Fahrzeuglenker sind nicht immer voll bei der Sache, denn zu später Stunde nehmen Müdigkeit und Ablenkung zu. Kein Wunder also, dass das Unfallrisiko nachts mehr als doppelt so hoch ist wie tagsüber.
Und was folgt daraus? Nachts gar nicht mehr fahren? Wenngleich dies vielleicht die sicherste Lösung wäre, realistisch ist sie nicht. Denn zum einen lässt sich (siehe oben) eine Nachtfahrt nicht immer vermeiden. Zum anderen hat das Fahren im Dunkeln gerade mit dem Motorrad einen besonderen Reiz. Wenn man sich nicht auf das Auge verlassen kann, werden die anderen Sinne geschärft und intensivieren das Fahrerlebnis.
Fahren bei Dunkelheit schärft die Sinne
Selbst durch den satt blubbernden Klang des Zweizylinders meine ich das Rauschen des Winds zu hören. Ich rieche Moos, den leicht fauligen Geruch feuchten Herbstlaubes und das satte Aroma von Waldpilzen. Über den Äckern schmeckt die Luft nach Erde. Die Nachtkühle dringt durch meine Goretex- und Lederschichten, so dass ich unter der Kluft leicht fröstele. Nieselregen setzt ein, die Regentropfen glitzern im Scheinwerferlicht wie Diamanten. Ich fahre nicht, ich gleite durch die Nacht. Ein bisschen fühlt es sich an wie Fliegen. Fledermäuse flattern entlang der Straße als wollten sie mich ein Stück begleiten. Mit sanftem Schwung nehme ich die letzte Kurve und reite in die Ortschaft ein. Als ich das Motorrad auf der beleuchteten Hofeinfahrt ausrollen lasse, grinse ich unter dem Helm.
Auch wenn ich weiterhin lieber im Hellen unterwegs bin, die Dunkelheit hat ihre Bedrohlichkeit verloren. Und das ist auch gut so. Denn ob ich will oder nicht, die nächste Nachtfahrt kommt bestimmt.
Tipps für das Fahren in der Dunkelheit:
- Scheinwerfer richtig einstellen und regelmäßig prüfen (lassen), ebenso Rück- und Bremslicht sowie Blinker.
- Auf Sicherheitsabstand achten. Auch wenn es verlockend ist, einem anderen Fahrzeug in der Dunkelheit zu folgen, sollte keinesfalls zu dicht aufgefahren werden.
- Visier kratzfrei und sauber halten und dafür sorgen, dass es nicht beschlägt.
- Geschwindigkeit anpassen und nur so schnell fahren, dass innerhalb des überschaubaren Bereichs angehalten werden kann. Nachts ist dies der Bereich, den die Scheinwerfer erhellen.
- Vor allem in Waldgebieten ist nachts, bei Nebel und in der Dämmerung mit Wildtieren zu rechnen. Besonders häufig unterwegs sind sie in der Paarungszeit von September bis Januar und von Juli bis August. Auf entsprechende Warnschilder achten, Geschwindigkeit reduzieren, Wald- und Straßenrand im Auge behalten. Wann immer möglich mit Fernlicht fahren, da die Augen der Tiere wie Rückstrahler wirken und sie dann besser zu erkennen sind. Taucht ein Tier im Scheinwerferlicht auf, sofort abblenden, bremsen, hupen und sich darauf einstellen, dass weitere folgen, denn ein Reh oder Schwein kommen selten allein.
- Reflektierende Kleidung, Warnwesten oder Reflektoren an Kleidung und Gepäck erhöhen die Chance, von anderen Verkehrsteilnehmern gesehen zu werden.
- Wenn es dunkel wird, fallen die Temperaturen. Ein extra Pullover oder eine Jacke können helfen, weniger zu frieren und konzentrierter zu bleiben.
- Taschenlampe einpacken. Die erleichtert im Dunkeln nicht nur das Kartenlesen auf unbekannten Straßen, sondern leistet auch bei einer Panne oder Pause wertvolle Dienste.
- Augenärzte empfehlen regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen, bei denen auch die Fähigkeit zur Nachtsicht getestet werden kann. Mindestens alle zwei Jahre, ab dem 40. Lebensjahr jährlich, sollte der Check-Up für das Auge so selbstverständlich sein, wie der Servicetermin in der Motorradwerkstatt.
- So genannte Nachtsicht- oder Kontrastbrillen mit gelb getönten Gläsern sollen die Dämmerungssehschärfe verbessern und die Blendempfindlichkeit vermindern. Ihre Wirkung ist allerdings umstritten. Tübinger Ärzte haben in einem Test 2002 festgestellt, dass einige Brillen das Sehen bei Dunkelheit sogar verschlechtern können.
- Vitamin A ist gut für die Augen und kann helfen, das Sehen tagsüber und nachts zu verbessern. Das fettlösliche Vitamin A kommt natürlich in verschiedenen Ausprägungen (Retinol, Beta-Carotin bzw. Provitamin A) zum Beispiel in Milch, Butter, Karotten, Grünkohl, Spinat sowie in tierischen Leberprodukten (vor allem Rinderleber) vor. Im Handel ist es als Teil von Vitaminpräparaten sowie in Form spezieller „Augen-Vitamine“ erhältlich. Aber Vorsicht: Überschüssiges Vitamin A wird vom Körper nicht abgebaut, sondern in der Leber eingelagert. Andauernde Überversorgung kann zu teilweise schweren Folgeschäden führen. Die empfohlene Dosis für Erwachsene liegt laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung bei zwischen 0,8 und 1 mg Vitamin A pro Tag, das entspricht in etwa dem Gehalt einer mittelgroßen Möhre.
- Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber gerade nachts besonders wichtig: Nur nüchtern und wach in den Sattel steigen. Bei Müdigkeit rechtzeitig Pausen einlegen.
Text: Diana Runge


