
Unfälle gehören zum Leben dazu
Ich werde häufig gefragt, warum es den einen nach einem Motorradunfall komplett aus der Bahn wirft und allein der Gedanke, zurück aufs Bike zu Schweißausbrüchen führt. Während für andere das Bikerleben nahezu unverändert weiter geht. Die Antwort ist so einfach wie vielschichtig: Auch wenn Unfälle zum Leben dazu gehören und jeder Mensch die angeborene Fähigkeit hat, diese Herausforderung zu meistern, geht jeder Mensch anders damit um. Und das aus unterschiedlichen Gründen.
Gelernt ist gelernt
Durch eine hysterische und kontrollsüchtige Mutter, die bei jedem blauen Fleck kurz vor dem Herzriss steht, wird jedes noch so kleine Missgeschick für das Kind zum Super-Gau. Und zwar gar nicht mal das Missgeschick an sich, sondern es liegt an der gesamten Litanei. Stell Dir vor, was alles in diesem kleinen Kopf vor sich geht, nachdemdas Kind z. B. mit dem Fahrrad hingefallen ist. Das eigentliche Aua rückt da in den Hintergrund und die Angst vor dem, was den Zwerg gleich Zuhause erwartet, rückt in den Vordergrund. Den gesamten Heimweg über steigern sich die Emotionen bis hin zur Unerträglichkeit. Verunfallt dieses Kind dann als Erwachsener holt unser limbisches System all die alten Emotionen aus der Versenkung und es gibt wieder den gefühlten Super-Gau.
Je früher im Leben, um so komplexer die Folgen
Das Alter in dem ein Schock passiert, ist von zentraler Bedeutung. Je reifer ein Körper ist, um so besser kann er mit einem extremen Erlebnis umgehen. Ein komplett entwickeltes Nervensystem hat ganz andere Kapazitäten. Zum Vergleich: Ein Baby fällt beim Spielen aus dem Kinderstuhl. Versus: Ein 12 jähriger fällt beim Spielen mit Kumpels vom Klettergerüst. Beide müssen danach im Krankenhaus genäht werden. Was meinst Du, für wen ist das Erlebnis einschneidender?
Ist es gut weiter gegangen?
Dank einer optimalen Erstversorgung, und damit meine ich sowohl die körperliche als auch die emotionale, kann ein Unfall nahezu ohne Folgen bleiben. Denn dann hat das Körpersystem die Chance, all sein genetisches Material optimal auszuschöpfen. Geht es aber nach dem Unfall chaotisch weiter, hat das Nervensystem keine Zeit für die Selbstregulierung. Die Folge: Der Stress bleibt.
Das dreiteilige Gehirn – Fluch und Segen zugleich
Aufgrund meiner neurobiologischen Ausbildungen sind die Begriffe Unfall, Schock und Trauma für mich völlig normal. Aber auch wenn gerade der Trauma-Begriff ja mittlerweile schon fast inflationär verwendet wird, erschreckt er Menschen dennoch mehr, als das er sie neugierig macht. Schade eigentlich, denn das was unser gesamter Körper leistet, um mit so einer Krisensituation fertig zu werden, verdient Hochachtung und Anerkennung.
Und daher lade ich Dich heute zu einem kleinen Ausflug in die kleinen und großen Alltagswunder in Deinem Körper ein. Denn: Unfälle gehören zum Leben dazu und die Natur hat unseren Körper dafür gemacht, mit diesen Unbillen des Lebens klar zu kommen. Werfen wir dafür einen Blick in unser Gehirn.
Der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil unseres Gehirns ist das Reptiliengehirn, das für die eher primitiven Funktionen, wie Reflexe, Verdauung, Fortpflanzung etc. zuständig ist. Durch die Evolution haben wir erst viel später noch etwas dazu bekommen, was grundsätzlich genial, im Falle eines Unfalls aber massiv hinderlich ist: unseren Neokortex. Er reguliert Sprache, Wahrnehmung, Denken und freiwillige Bewegungen. Und, hier liegt das Problem, in ihm entstehen unsere Wertungen („Stell dich nicht so an!“oder „Ist das peinlich!“) und unser Selbstbild („Andere fahren auch als wenn nichts gewesen wäre!“).
Im Falle eines Unfalls stehen die beiden ein wenig miteinander auf Kriegsfuss. Denn unser genetisch angelegtes Programm zum Umgang mit einem Schock läuft überwiegend im Reptiliengehirn ab. Nur ist das langsam, wie der Name schon sagt. Viel langsamer als der Neokortex und das limbische System. Bevor also das Reptiliengehirn seinen Job machen kann, feuert das limbische System Emotionen und der Neokortex versucht sich aus all dem Wirrwarr einen Reim zu machen. Was ihm meist nicht gelingt – und hier liegt das Problem. Denn dieses große Nicht-Verstehen ist unangenehm und verwirrend. Zwei Zustände, die wir Menschen nicht mögen. Also versuchen wir das schnellstmöglich zu beenden. Was in diesem Falle nur durch Verdrängung oder Leugnung funktioniert. Also bekommt das Repitiliengehirn vom Neokortex Maulschellen verpasst, und das limbische System gleich mit. Die biologischen Selbstregulierungs-Prozesse kommen nicht zum Abschluss und das hinterlässt im Körper Spuren die sich in Form von Angst, Unsicherheit, Stress, Rastlosigkeit, Schwindel, Schreckhaftigkeit, Erschöpfung, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Magen-Darmproblemen, Kopfschmerzen bis hin zur Migräne etc. äußern können.
Fazit: Wir Menschen können von unserer Natur aus mit Unfällen umgehen. Nicht jeder Unfall muss also mit einem qualifizierten Traumatherapeuten aufgearbeitet werden.
Aber: Jeder Unfall der über die normale Geschwindigkeit, zu der wir Menschen ohne Hilfmittel fähig sind, richtet Schaden an. Denn nur weil wir technisch in der Lage sind mit z. B. 130 km/h unterwegs zu sein, ist es unser Körper noch lange nicht. Rein biologisch sind für die Kräfte, die gerade bei einem Unfall auf den Körper wirken, nicht ausgerichtet. Sollten also die oben genannten Symptome nach einem Unfall auftreten, braucht der Körper Unterstützung um die biologischen Prozesse zum Abschluss zu bringen. Und danach steht einem (wieder) entspannten Fahrvergnügen nichts mehr im Wege.
Text und Grafik: Karin Intveen



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